Ellen Matzdorf ist Hebamme und Bestatterin. Extremsituationen gehören zu ihrem Alltag.
Ellen Matzdorf (Foto) aus Oldenburg ist Hebamme und Bestatterin. Das klingt für viele verstörend, ist aber kein Widerspruch. Denn in beiden Fällen geht es um Menschen in Extremsituationen. In ihrem Buch „Vom ersten bis zum letzten Atemzug“ (ZS Verlag, 22,99 Euro) gibt sie Einblicke in zwei Welten, die vieles gemeinsam haben. Ein Gespräch über verdorbene Partylaune, Pippi Langstrumpf und Maßnahmen gegen die Angst.
Sie sind Hebamme und Bestatterin – wie kam es dazu?
Ich war zuerst Hebamme und hatte dabei keine Berührungsängste mit Krankheit und Tod. Als ich miterlebte, wie ein Baby starb, merkte ich aber, dass ich nicht gut vorbereitet war, um Müttern in dieser schlimmen Zeit beizustehen. Ich machte zusätzlich eine Ausbildung zur Sterbe- und Trauerbegleiterin und fing später auch mit Bestattungen an. Ich hatte einfach das Gefühl, dass die Zeit dafür gekommen ist.
Wie hat sich das entwickelt?
Zu Bestattungen von Sternenkindern (so nennen wir Kinder, die kurz vor, während oder nach der Geburt sterben) kamen schnell auch die von Erwachsenen hinzu. Zuerst baten mich Freunde und Bekannte, wenn Mutter, Vater oder Schwiegervater gestorben waren. Dann sprach sich herum, dass ich etwas anders herangehe als andere Bestatter. Inzwischen kommen viele. Die Gewichte haben sich verschoben. Anfangs arbeitete ich im Team mit meiner Tochter. Jetzt sind wir zu sechst. Die Hebammenarbeit wird weniger. Inzwischen bin ich Anfang 60 und vom Lebensalter her näher an der Beschäftigung mit dem Tod als mit der Geburt.
Die Kombination ungewöhnlich?
In der Tat. Soweit ich weiß, bin ich in Deutschland die Erste, die beide Berufe gleichzeitig ausübte, vielleicht sogar die Einzige. Für viele hört sich das erst einmal widersprüchlich an. Für mich aber nicht. Leben und Tod können so nah beieinander sein. Beides sind absolute Extremsituationen, die alle Beteiligten in emotionale Ausnahmezustände bringen. Meist gibt es kaum Hilfe, aber das Bedürfnis danach ist groß. Ich möchte Angehörigen schwere Erfahrungen so erträglich wie möglich machen. Die meisten sind unendlich dankbar dafür.
Wie geht das rein praktisch zusammen?
Zuerst hatte ich das Gefühl, mich zwischen zwei Berufen entscheiden zu müssen. Da habe ich mich gefragt „Warum eigentlich?“ und dann einfach beides probiert. Ich merkte schnell, dass es gut geht. Ich kann morgens dabei helfen, ein Baby auf die Welt zu bringen und abends einen Verstorbenen abholen. Wenn ich nach einer Geburt aus dem Kreißsaal komme, ziehe ich die weiße Kleidung aus und gedeckte Farben an. Dann fahre ich zur Familie eines Verstorbenen. Manchmal geht es auch mit dem Begräbniswagen zur Geburtsvorsorge.
Wie reagieren andere darauf?
Viele finden das ungewöhnlich, manche sogar verstörend. Wenn ich erzähle, dass ich Hebamme bin, reagieren neue Bekannte mit Interesse. Wenn ich sage, ich bin auch Bestatterin, ist die Partylaune erstmal dahin. Auch im Alltag stoße ich auf Widerstände. Mit der Idee, in meinem Geburtshaus zugleich ein Abschiedshaus unterzubringen, kam ich zum Beispiel nicht weit. Mein Vermieter lehnte ab. Geburten seien schön, aber Tote im eigenen Haus? Eher nicht.
Und die Kollegen im beruflichen Umfeld?
Einmal machte eine Ärztin im Krankenhaus eine Bemerkung: „Meinst du nicht, das ist komisch für Eltern, wenn du morgens einen Toten anfasst und abends ihr Baby badest?“ Das brachte mich auf Gedanken, die mir sonst nie gekommen wären. Eine Zeitlang war ich zurückhaltend, sprach bei Geburten mit den Kolleginnen nicht allzu viel über meinen anderen Beruf. Aber den Menschen, die ich begleitete, schien das nie etwas auszumachen. Im Gegenteil, sie fragten mich neugierig aus.
Was raten Sie Familien, die mit Geburt oder Tod zu tun haben?
Schau hin, gib dich hin und vertraue dir. Jede Frau weiß von Natur aus, wie Gebären geht. Und jeder Mensch kann und wird letztendlich auch mit dem Tod umgehen. Wir haben ja ohnehin keine Wahl. Ich wünsche jedem, die Dinge nicht zu schnell abzuhaken. Es hilft, sich dem konkret zu stellen. Jeder soll sich gesehen fühlen mit seinen Sorgen, Ängsten und Bedürfnissen. Von diesem Ausgangspunkt fällt es leichter, kreative Lösungen zu finden.
Was möchten die Betroffenen wissen?
Wer weiß, wie das Sterben verläuft und sich verabschiedet, verliert oft die Angst und erahnt, dass die Natur das nun mal so für uns vorsieht und dass wir dem letztlich auch gewachsen sind. Es geht für mich in beiden Extremsituationen darum, was sich die Menschen gerade wünschen und was sie brauchen. „Abschied ist so einzigartig wie das Leben“, lautet mein Leitspruch. Es ist gut, wenn man selbst etwas bestimmen kann. Doch leider klappt das nicht immer.
Inwiefern?
Ich habe mal eine Mutter betreut, deren Baby nach der Geburt starb. Sie war völlig verzweifelt, erschöpft und untröstlich wie alle Eltern in so einer Situation. Statt in Ruhe Abschied zu nehmen, musste sie kämpfen. Sie hätte den Kleinen gerne für ein paar Stunden mit nach Hause genommen, durfte das aber nicht. Dann wollte sie den weißen Kindersarg bemalen. Das war nicht vorgesehen. Ein Baby im Familiengrab neben der Oma galt als unmöglich. Ich dachte: Warum müssen Wünsche trauernder Eltern an seltsamen Vorgaben scheitern?
Was können Sie da tun?
Als Hebamme habe ich mich immer an Vorgaben gerieben, die Geburten bequemer für Kliniken machten und Bedürfnisse der Frauen übergingen. Als Bestatterin verlasse ich eingetretene Pfade und die Das-Macht-Man-So-Regeln, die für viele keinen Sinn ergeben. Hebammen kämpfen oft mit der Geringschätzung durch Ärzte, bei Bestatterinnen sind es Standeskollegen und die Kirche, die Neues kritisch beäugen. Ich habe mich in beiden Berufen immer gefragt: Wer steht hier eigentlich im Mittelpunkt, wem soll das nützen? Und daraus neue Ideen entwickelt.
Wie werden Sie persönlich damit fertig?
In meiner Rolle als Bestatterin fühle ich mit den Angehörigen wie als Hebamme bei einer Geburt. Ich werde damit gut fertig, denn es sind nicht meine Wehen und es ist nicht meine Trauer, nicht mein Schock. Meine Aufgabe ist es, zu funktionieren, wo Angehörige das gerade nicht können. Über die Jahre habe ich festgestellt, dass ich das geben kann, ohne es als Bürde zu erleben. Ich kann mich in diesen Extremsituationen soweit öffnen, dass ich spüre, was gerade gebraucht wird. Bei Geburten etwa lag ich nie falsch – nicht mit dem Gefühl: das ist hier zwar schwierig, aber wird schon. Und nicht mit der Ahnung: hier läuft was schief, wir müssen aus dem Geburtshaus in die Klinik.
Was macht Sie zufrieden?
Der Transport, der Totenschein, die Leichenschau, die Grabstätte, die Trauerfeier, die Karten, die Todesanzeige, das Krematorium – in dieser Krise zu helfen, macht mich genauso zufrieden wie die Unterstützung einer Geburt. Manchmal sind es sogar dieselben Menschen, die ich in beiden Lebenslagen begleiten darf. Ich bin eine grenzenlose Optimistin, lebe ein bisschen nach dem Pippi-Langstrumpf- Prinzip: Das haben wir noch nie probiert, also geht es sicher gut. Anfangs war das vielleicht nicht ganz ernst gemeint, aber am Ende lief es darauf hinaus. Auch wenn ich Grauenhaftes erlebe, habe ich oft Gefühl, gute Arbeit geleistet zu haben. Am Anfang und am Ende steht immer die Erkenntnis: Es muss sich jemand kümmern, und ich kann das.
Woher nehmen Sie selbst die Kraft?
In meinem Leben lief nicht alles glatt. Ich wuchs zeitweise im Kinderheim auf. Damals habe ich angefangen, mit Illusionen und Imagination zu leben. Mit der bitteren Realität und der Vorstellung von einer heilen, liebevollen Familie. Das hat mich auch später üble Zeiten überstehen lassen. Wie die Hinterbliebenen bei einer Trauerfeier habe ich heute noch die Chance, einen Schritt zurückzutreten und zu sehen: Ich bin noch da, ich lebe. Noch kann ich mich bewegen, etwas tun, gestalten, Schönes erfahren. Wenn alles anders ist, dann weiß ich das erst im letzten Moment. Bis dahin ist alles gut. Und dann ist es, wie es ist. Das Schwere hilft mir, das Leichte zu spüren.
BUCH-TIPP
Ellen Matzdorf: Vom ersten bis zum letzten Atemzug – Deutschland erste Hebamme und Bestatterin über selbstbestimmtes Leben und Sterben (ZS Verlag, 22,99 Euro)
Fotos: Hendrik auf pixabay.com/Peer-Ole Hansen
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