Zu nett

In der Nettigkeitsfalle: Warum Sie nicht zu nett sein sollten

Liebes Mädchen, guter Junge? Everbody‘s darling? Wer immer nur nett sein will, schadet sich selbst

Konflikte? Die meidet Barbara grundsätzlich. Die 47-jährige Krankenschwester will es jedem recht machen. Sie möchte gemocht werden. Im Job übernimmt sie oft Dienste von anderen. Zu Hause macht sie, was ihr Mann will, damit es nicht zu kräftezehrenden Auseinandersetzungen kommt. Für die Kinder („die sollen es gut haben“) ist sie immer im Einsatz. Und auch ihrer 78-jährigen Mutter würde sie keinen Wunsch abschlagen. Sie erfüllt ihre Pflicht, klagt oft über Stress, sagt aber niemals nein. Barbara steckt in der Nettigkeitsfalle.

Zu nett: Ich helfe, wo immer ich kann

Frauen wie sie geben sich als Idealtypus eines guten Menschen: „Ich helfe, wo immer ich kann. Ich stecke meine eigenen Bedürfnisse hinter deinen zurück. Ich bin nicht eigennützig, nicht egoistisch, sondern selbstlos und gütig.“ Jeder kennt so ein gute Seele. Es gibt die aufopferungsvolle Tante, die ein Familienmitglied nach dem anderen pflegt. Den Kollegen, der immer die unbeliebten Arbeiten erledigt. Die Nachbarin, die niemanden einen Wunsch abschlägt und sich ständig entschuldigt. Die Mutter, die immer nur für die Kinder da sein möchte und sich selbst dafür aufgibt. Den ehrenamtlich Engagierten, der seine ganze Freizeit in einer sozialen Einrichtung verbringt.

Ist die Aufopferung wirklich selbstlos?

Das allein führt noch nicht in die Nettigkeitsfalle. Auch viele andere Menschen tun Dinge, die über den eigenen Interessen stehen. Davon lebt die Gesellschaft. Sie geben Trinkgeld, obwohl sie nicht müssen. Sie spenden für Menschen in Not, die sie gar nicht kennen, oder engagieren sich in Vereinen, die nicht dafür zahlen. Das kann sehr befriedigend sein. Viele freiwillige Helfer begründen das mit dem Satz „Ich will etwas Sinnvolles tun.“ Sie werden dafür belohnt, anerkannt und als Vorbild gepriesen, was das eigene Wohlbefinden steigert. Wer sich für andere einsetzt, genießt Ansehen und schafft Vertrauen.

Unbewusst stecken eigennützige Motive dahinter

Doch ist das wirklich so selbstlos, wie es auf den ersten Blick erscheint? Nicht unbedingt. Denn unbewusst steckt meist doch eine Absicht dahinter. Wir erhöhen mit Nettigkeiten die Wahrscheinlichkeit, dass andere uns auch Gutes tun, wenn es darauf ankommt. Geschieht das durch ein großzügiges Trinkgeld oder eine Spende, entspricht es den Gesetzen einer Solidargemeinschaft, in der alle voneinander profitieren.

Zu nett: Wann wird Hilfsbereitschaft krankhaft?

Die Idee, nett und freundlich zu anderen zu sein, ist prinzipiell eine gute Sache. Doch häufig verkehrt sich die edle Absicht ins Gegenteil. Wer nur mit Nettigkeit nach Anerkennung sucht, läuft Gefahr, so stark im Helfen aufzugehen, dass kein Raum mehr für anderes bleibt. Die Helferei wird zwanghaft. Die Betroffenen fühlen sich überfordert und schaden sich selbst, indem sie ihre eigenen Bedürfnisse ignorieren. Häufig kommt es zum Burnout.

Die Balance zwischen Geben und Nehmen fehlt

Wo liegt der Unterschied zwischen gesunder Hilfsbereitschaft und krankhaftem Helfersyndrom? Psychologen raten, nach dem Motiv zu fragen. Gebe ich, weil ich jemandem mit Einfühlsamkeit, Mitgefühl oder Respekt begegnen möchte, dessen Not ich erkenne? Dann ist das in Ordnung. Oder fühle ich mich verpflichtet, weil ich Angst habe, sonst nicht von anderen geschätzt zu werden? In diesem Fall können zu viele gute Taten die Balance zwischen Geben und Nehmen gefährden. Man gibt zu viel und bekommt zu wenig, wird getrieben von Angst oder Schuldgefühlen, aber nicht von innerer Stärke. Der übereifrige Einsatz aus Nächstenliebe vertreibt das Gefühl von Wertlosigkeit.

Überzogenes Einfühlungsvermögen macht uns zu nett

Die Basis dafür kann genetisch bedingt sein, wird aber auch häufig in der Kindheit gelegt. Wer zum Gehorsam erzogen wurde, nichts hinterfragen und keine eigene Meinung vertreten durfte, tut sich auch als Erwachsener schwer, die eigenen Bedürfnisse durchzusetzen. Kinder von hilfsbedürftigen Eltern sind besonders gefährdet. Wenn Mütter oder Väter selbst in Not sind (zum Beispiel, weil sie depressiv oder alkoholabhängig sind), entwickeln Kinder ein überzogenes Einfühlungsvermögen und bemühen sich aufopferungsvoll, die Stimmung in der Familie zu verbessern. Sie fühlen sich schuldig am Schicksal ihrer Eltern und wollen das mit Leistung, Anpassung und Liebsein wieder gut machen.

Nettigkeits-Falle: Sind Sie zu nett?

Die Gefahr, dass andere die Kontrolle über das eigene Leben übernehmen, besteht bei jedem Menschen. Es gibt jedoch Warnzeichen. Gefährdet ist, wer …

… bei jeder Entscheidung zuerst fragt, was andere von ihm denken.

… ständig ein offenes Ohr dafür hat, ob sich jemand anderes etwas wünscht.

… oft das Gefühl hat „Ich lebe doch nur für andere“.

… sich sofort an eine neue Umgebung anpasst, um nicht aufzufallen.

… Dinge aus Angst, nicht gemocht zu werden, tut, die er allein nie tun würde.

… sich häufig entschuldigt.

… nicht egoistisch wirken will.

… andere undankbar findet und still leidet, wenn die seine Taten nicht loben.

… was anderes sagt als er denkt, um mit seiner Meinung nicht anzuecken.

… sich oft mit Leuten trifft, die er nicht mag, weil er nicht absagen will.

… sich nicht wehrt, wenn ihm Unrecht geschieht.

… sehr leidet, wenn er weiß, dass andere sich über ihn ärgern.

… sich als Opfer von Umständen fühlt, an denen andere schuld sind.

Nicht mehr zu nett sein: Veränderungen sind möglich

Die gute Nachricht für alle Betroffenen: Es ist möglich, sich zu ändern. Bleiben Sie nicht länger der nützliche Trottel. Die Umstellung ist meistens nur am Anfang schwer. Wenn der ach so liebe Dienstleister plötzlich nicht mehr das willenlose Geschöpf ist, dem man alles aufdrücken kann, werden die anderen zuerst irritiert reagieren. Was ist denn aus dem lieben Mädchen oder dem guten Jungen geworden? Die sind ja plötzlich ganz anders als sonst.

Die Wertschätzung geht nicht verloren

Keine Sorge, das geht vorbei. Sobald die anderen gemerkt haben, dass jetzt Schluss ist mit dem ewigen Ja-Sagen, werden sie auch den Umgang mit Ihnen verändern. Die Wertschätzung geht keineswegs verloren, wie Sie es vielleicht befürchten. Im Gegenteil: Helfende Opfer werden oft als langweilig empfunden, Menschen mit Meinung als interessant. Stehen Sie zu sich und ihren Bedürfnissen, statt sie zu verdrängen. Sie müssen dafür nicht gleich unfreundlich werden. Everbody‘s Darling kann sich auch mit einem Lächeln im Gesicht auf charmante Art verändern. Einfach mal ja zu sich selbst und nicht nur zu anderen sagen.

Foto: unsplash.com

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