Wenn erwachsene Kinder nicht ausziehen

Hotel Mama: Wenn erwachsene Kinder nicht ausziehen

Immer mehr junge Erwachsene leben bei den Eltern. Das kann nett sein, birgt aber auch Konflikte

Ausziehen? „Ach, das lohnt doch nicht“, sagt Anna (24). Ihre Mutter pflichtet ihr bei. Klar, die erwachsene Tochter soll ruhig noch ein bisschen zu Hause bleiben. Die beiden verstehen sich gut. Für ein Zimmer mitten in der Stadt, so wie sie es zu Hause hat, müsste Anna drei Straßen weiter 600 Euro zahlen. „Die kann ich wirklich besser ausgeben“, sagt sie. Die Eltern stimmen zu. So kann Anna in Ruhe studieren, muss sich nicht um Einkaufen, Kochen, Putzen und Co. kümmern. Sie jobbt nebenbei ein bisschen („für Klamotten, Ausgehen, Feiern, Reisen“). Anna sieht sich nicht als Nesthocker, der es sich auf Kosten der Eltern bequem macht. Sie klebt nicht an Mama und Papa, war in der elften Klasse ein Jahr zum Schüleraustausch in Chicago, nach dem Abi in Australien, als Aupair in Paris und gerade mit ihrem Freund vier Wochen in Thailand. Auch ihre Reiselust spricht gegen eine eigene Wohnung. Die wäre dann ja zeitweise leer. Das erwachsene Kind und die Eltern sind sich einig: Anna soll diese Freiheit genießen.

Nicht ausziehen? Das war früher als andere als Freiheit

Wer in den achtziger Jahren oder früher in Annas Alter war, reibt sich die Augen. Freiheit? Das war damals genau das Gegenteil. Freiheit genießen, das hieß: Möglichst schnell raus aus dem Elternhaus. Auf eigenen Beinen stehen. Machen können, was man will. Keine Kontrolle, keine Nachfragen. Heute ergeht es immer mehr jungen Erwachsenen wie Anna. Lebte 1980 gerade mal ein Fünftel der 25-Jährigen noch bei Mama und Papa, so ist das heute fast umgekehrt. Vier von fünf großen Kindern bleiben bis Mitte zwanzig im Elternhaus. 2,73 Millionen Menschen zwischen 20 und 40 wohnen laut Statistik noch mit den Eltern unter einem Dach.

„Zieh endlich aus“ – das bringen Eltern heute nicht übers Herz

Die Gründe dafür sind vielfältig: Hohe Mieten, schlecht oder gar nicht bezahlte Praktika, lange Studienzeiten mit Studiengebühren stehen auf der praktischen Seite. Auf der emotionalen Seite finden sich Eltern, die ein gutes Verhältnis zu ihren Kindern haben und nicht loslassen wollen. Auch aus Sicht der Kinder ist eine Abnabelung nicht so wichtig. Schüleraustausch, Reisen, Auslandsaufenthalte – viele haben ihren Freiheitsdrang schon ausgelebt oder gar nicht erst entwickelt. Ihnen fällt es schwer zu gehen, denn sie könnten ihre Eltern enttäuschen. Ein „Zieh endlich aus“ bringen Mütter und Väter heute kaum noch über die Lippen. Übers Herz sowieso nicht. Denn das Miteinander der Generationen hat Vorteile – und zwar nicht nur für die (vermeintlich) bequemen Konsumkinder, sondern auch für die Eltern zwischen Rush Hour und Ruhestand.

Möglichst lange Einfluss aufs Leben der Kinder nehmen

Ob bewusst oder unbewusst – viele Eltern wollen ihre Kinder länger an sich binden, um deren Leben und Karriere zu beeinflussen. „Wenn ich den morgens nicht aus dem Bett schmeißen würde, wäre er mittags noch drin“, sagt eine Mutter über ihren 22-jährigen Sohn. Würde der junge Herr dann mal aufstehen, ginge es ohne Umweg übers Badezimmer an den PC zum Daddeln. So rechtfertigt der Wunsch, dass das Kind die Uni schafft, seine Anwesenheit im Hotel Mama.

Hinzu kommt: Viele Familien funktionieren im Alltag wie eingefahrene Teams. Untersuchungen haben gezeigt, dass Ober- und Mittelschichtskinder, die partnerschaftlich demokratisch erzogen wurden, gut mit ihren „Ellis“ klarkommen. Sie verbreiten fröhliche Stimmung, stabilisieren in die Jahre gekommene Ehen. „Seit die Kinder ausgezogen sind und nachmittags nicht mehr bei mir in der Küche sitzen, habe ich zu Hause keinen mehr zum Reden. Das ist echt traurig“, berichtet eine Mutter von zwei Töchtern (24 und 22). Ihr Mann zählt nicht als Gesprächspartner. Auch Alleinerziehenden geht es oft nicht anders.

„Du willst mich verlassen?“ – So ein Satz macht Schuldgefühle

Vor allem nicht berufstätige Mütter empfinden ihr Leben ohne Kinder als leer, fühlen sich nutzlos und leiden mehr als andere unterm Älterwerden. Eine Mutter von flügge gewordenen Zwillingen: „Die Wechseljahre sind schon schlimm genug, aber jetzt frage ich mich auch noch, was ich den ganzen Tag tun soll.“ Genau das schafft Probleme. Wenn die erwachsenen Kinder merken, wie sehr ihre Mütter oder Väter sie noch brauchen („so, so, du willst uns also verlassen? Das wird ganz schön traurig ohne dich hier“), entwickeln sie oft Schuldgefühle. Unbewusst nehmen Eltern ihrem Nachwuchs die Chance auf ein selbstbestimmtes, unabhängiges Leben.

Eltern in der Opferrolle sind keine gute Basis

So gut die Beziehung auch sein mag, es bleibt immer ein schaler Beigeschmack. Ein Erwachsener ohne eigenes Leben gilt langfristig als merkwürdiges Wesen, dem irgendwann etwas fehlt. Die Evolution hat Abnabelung vorgesehen. Tiere stoßen ihre Jungen aus dem Nest, wenn die Zeit dafür gekommen ist. So hart müssen Eltern nicht sein, ein paar Jahre Verlängerung trüben nicht gleich das gute Verhältnis, doch die Eltern in der Opferrolle („ich mache es dir bequem, damit du mich nicht verlässt“) sind keine Basis für ein faires gleichberechtigtes Miteinander. Unzufriedenheit macht sich breit, wenn das Kind herummeckert, undankbar erscheint, den gebotenen Luxus nicht angemessen zu schätzen weiß, zu lange schläft, zu spät ins Bett geht, zu viel am Bildschirm hockt, komische Freunde hat oder aus Sicht der Eltern zu wenig für die Uni tut. Denn Mama und Papa bekommen – auch wenn sie nicht schimpfen oder drohen – alles mit, was es macht.

Statt Rausschmeißen helfen auch erst einmal Regeln

– Damit die Daheimgeblieben den Umgang mit Geld und Verantwortung lernen, sollten Eltern sich nicht scheuen, von ihren berufstätigen Kindern eine Beteiligung an der Miete und den Lebenshaltungskosten zu verlangen. Das ist nicht herzlos, sondern steht ihnen zu.

– Im Elternhaus gilt nicht mehr „Wir machen alles“. Hausarbeit wird geteilt wie in einer WG. Putzpläne werden gemeinsam erstellt und eingehalten. Hart, aber gerecht: Wenn das Kind sich nicht dran hält, muss es statt dessen zahlen.

– Jedes Familienmitglied braucht eine Privatsphäre. Will der ausgewachsene Junior Freunde einladen und mit denen das Wohnzimmer belegen, geht das nur nach Absprache.

Wenn die Kinder groß sind, gib ihnen Flügel

Meist haben Eltern aus dem Bildungsbürgertum ihren Kindern zwei Jahrzehnte lang eingetrichtert, dass es wichtig ist, selbstständig zu werden. Dass man sich wehren sollte, wenn andere einen in Abhängigkeiten drängen. Dass sie nun ausgerechnet selbst diejenigen sind, die das tun, sollte ihnen zu denken geben. Vielleicht pappt auch der Spruch aus Kindergartenzeiten noch am Kühlschrank und ist jetzt aktueller denn je: „Wenn die Kinder klein sind, gib ihnen Wurzeln, wenn sie groß sind, gib ihnen Flügel.“

Foto: Pete Bellis on Unsplash

DAS KÖNNTE SIE AUCH INTERESSIEREN

Vorsicht: Diese Komplimente gehen nach hinten los

Erfolgreich überzeugen: So setzen Sie sich clever durch

Warum positives Denken leicht nach hinten losgeht

Gute Freunde sind selten: Nur auf die Hälfte ist Verlass

Zufrieden leben: Sinn ist viel mehr als Glück

Vorsicht: Diese Dinge sagen nur Langweiler

Wenn die Kinder ausziehen: Plötzlich allein im Haus