Hochsensible Kinder wirken ängstlich, doch sie haben außergewöhnliche Fähigkeiten
Sobald Svea fremden Menschen gegenübersteht, senkt sie den Blick und würde sich am liebsten hinter ihrer Mutter verkriechen. Wenn jemand die Fünfjährige anspricht, bleibt sie einfach stumm. „Kannst du noch nicht reden?“, fragen manche Leute mitleidig und schieben nach: „Musst doch keine Angst vor mir haben.“ Meist versuchen die Erwachsenen es dann mit ganz leichten Fragen: „Wie heißt du denn? Wie alt bist du?“ Sveas Mutter kennt das schon. Nach dem vierten Versuch bei Svea gehen die Fragen an die Eltern: „Stimmt etwas mit Ihrem Kind nicht?“ – „Svea hat noch keine Sprechstunde“, entgegnet Mama in solchen Fällen augenzwinkernd und hofft auf Verständnis statt auf Vorwürfe. Manche nicken („ja, unser Sohn war auch früher so“), manche glauben aber auch, Erziehungs-Nachhilfe geben zu müssen: „Die muss einfach mal zum Reden gezwungen werden. Wie soll sie denn später in der Schule klar kommen?“ Das weiß Sveas Mutter auch noch nicht. Sie hofft auf eine verständnisvolle Lehrerin. Denn wenn ihre Tochter einmal Vertrauen gefasst hat, kann sie reden wie ein Wasserfall, teilt jedem ihre Ansichten über Gott und die Welt mit, weiß genau, was sie will, und ist in kleinen überschaubaren Gruppen meist im Nu die Anführerin.
Kreative Kinder sind oft hochsensibel
All das ist keineswegs ein Widerspruch, sondern typisch für besonders empfindsame Kinder wie Svea. Zehn bis zwanzig Prozent aller Jungen und Mädchen gelten als hochsensibel, wie die amerikanische Psychotherapeutin und Professorin Eliane N. Aron es nennt. Meist haben sie es nicht leicht, werden als Seelchen bemitleidet oder sogar ausgelacht, weil sie schnell in Tränen aufgelöst sind. Ihre Zurückhaltung und die Angst vor Ungewohntem macht sie schüchtern oder führt zu Konzentrationsproblemen und schlechten Schulnoten – vor allem im Mündlichen.
„Dabei sind es oftmals gerade die klugen und kreativen Kinder“, hat Eliane N. Aron festgestellt. „Dank einer einzigartigen Kombination aus ererbten Wesenszügen einerseits und verschiedenen Erziehungsmaßnahmen und Schulerlebnissen andrerseits ist jedes hochsensible Kind etwas ganz Besonderes.“ Die Expertin, die seit mehr als elf Jahren über die Wesenszüge hochsensibler Menschen forscht, möchte ein falsches Bild revidieren: Früher wurden diese Kinder abgestempelt als angeboren schüchtern, introvertiert, ängstlich, gehemmt oder einfach nur als negativ. Die Psychologin: „Diese veralteten Begriffe werden ihnen nicht gerecht.“
Sensibilität als Vorteil oder als Quelle der Angst?
Ein Kind, das erst einmal beobachtet, muss nicht scheu sein. Mädchen und Jungen, die vieles aufnehmen und deshalb manchmal verwirrt darauf reagieren, sind nicht unbedingt zu zappelig, sondern haben vielleicht nur einen feinen Sinn für Nuancen. „Es stimmt zwar, dass Hochsensible zu Schüchternheit neigen, doch der dafür verantwortliche Wesenszug ist die Sensibilität und nicht die Angst“, so Dr. Aron. „Wenn Hochsensibilität ein bleibender Nachteil wäre, hätte die Evolution diese Eigenschaft nicht zugelassen. Dafür gibt es einfach zu viele Betroffene.“
Wie schaffen die es, langfristig ein zufriedenes und glückliches Leben zu führen? Die Expertin: „Ob wir Sensibilität bei Kindern als Vorteil oder als Quelle der Angst behandeln, das hängt vor allem von der Erziehung ab.“ Auch wenn die kleinen Sensibelchen schwer zu erziehen sind, müssen Eltern sich keine Sorgen um ihre Zukunft machen. „Zahlreiche Hochsensible arbeiten als namhafte Professoren, Richter, Ärzte, Wissenschaftler, Autoren, Künstler oder Musiker. Sie sind in der Lage, Freude und Zufriedenheit viel tiefer zu empfinden als andere“, hat Eliane N. Aron beobachtet. Sie empfiehlt Müttern und Vätern für ihre Töchter und Söhne als Erziehungsziel zu sehen, was Aristoteles als Glück definierte: „Wir sind von Natur aus am glücklichsten, wenn wir unserer angeborenen Neigung folgen.“
Wenn das Kind gewürdigt wird, geht es ihm gut
Selbst wenn jemand unter Leid, Verlust oder Tod mehr leidet, muss es ihm deshalb nicht schlechter gehen, wenn er so leben darf, wie die Natur es für ihn vorgesehen hat, und dafür gewürdigt wird. Um ihrem Kind nichts Furchterregendes aufzudrängen, müssen Eltern sich ein dickes Fell gegenüber vermeintlich gut gemeinten Tipps von anderen zulegen. Die Mutter des dreijährigen Jakob zum Beispiel sollte ihren hochsensiblen Sohn auf Anraten ihrer Schwiegermutter trotz Gebrüll einfach im Kindergarten abgeben („sonst lernt ihr ja nie, euch zu trennen“). Jakobs Mutter brachte das nicht übers Herz und verschob den Kindergarten-Start immer wieder. Bis sie eine Erzieherin traf, die Verständnis zeigte und sich darauf einließ, dass Jakob einfach länger braucht und nicht gedrängt werden sollte. Es dauerte fast ein halbes Jahr, bis der Kleine seinen Kindergarten liebte, doch es klappte, ohne dass der Junge schmerzhaft überfordert werden musste.
Sie trennen sich schwer und stehen auf Partys oft abseits
Hochsensible stehen auf Kinderpartys oft abseits, spielen gerne allein zu Hause, verkleiden sich ungern, essen nur, was sie kennen, trennen sich lediglich unter Protest von Mama oder Papa, weigern sich oft, Verwandte zu küssen oder zu umarmen, wollen nicht auf Klassenfahrten — all das provoziert zu Vorschlägen wie „Da muss man mal Druck machen“ oder „Eine Zwangstrennung von Mama wird dem Kind schon nicht schaden“ oder „Lasst euch von Tränen nicht erpressen“. Doch ein hochsensibles Kind will selten erpressen – es kann einfach nicht anders. Wenn Eltern – was übrigens oft vorkommt – selbst hochsensibel sind, kennen sie die Ohnmachts-Gefühle aus ihrer eigenen Kindheit und können Rücksicht darauf nehmen. Warum muss ein Kind woanders übernachten, die Großmutter küssen oder als Gespenst zu Halloween gehen, wenn es das nicht will?
Eltern sollten nicht die Person rügen, sondern ihr Verhalten
Um solche Fragen zu beantworten, müssen Eltern ihr Kind gut kennen. Ich-will-nicht-Aufstände sind oft auch Machtfragen – das ist bei Hochsensiblen genauso wie bei anderen Kindern. Eltern von empfindsamen Jungen und Mädchen müssen jedoch nicht einfach nachgeben, um Ruhe zu haben. Das wäre falsche Rücksicht. Sie können aber angemessen reagieren – wie zum Beispiel die Mutter der fünfjährigen Marie, die nicht nur zu Hause, sondern auch bei anderen Leuten wütend ihren Teller wegstößt, wenn Spiralnudeln statt Spaghetti serviert werden. Für Marie ist das ein großer Unterschied. Sie kennt nur Spaghetti und will deshalb keine anderen Nudeln essen. Ihre Mutter weiß das, nimmt Rücksicht darauf, lässt das schlechte Benehmen aber nicht durchgehen und schimpft – nur deshalb! – mit Marie. „Bringen Sie Ihrem Kind bei, seine Ablehnung angemessen auszudrücken. Dann ist das in Ordnung“, sagt Elaine N. Aron.
Sensibelchen müssen im Kleinkindalter schwierig sein
Pädagogisch in Ordnung, aber praktisch oft nervenaufreibend. Vor allem im Vorschulalter machen hochsensible Kinder es ihren Eltern nicht leicht. Weil sie einen starken Willen haben und genau wissen, was sie wollen, werden sie schnell wütend, regen sich auf, werfen sich hin, schreien oder treten um sich. Sollen Eltern das unterbinden oder dem Kind die Ausraster durchgehen lassen? Elaine N. Aron rät, durchzuhalten statt Druck zu machen: „Wer sein hochsensibles Kind so akzeptiert, wie es ist, hat es im Kleinkindalter schwerer, profitiert aber später davon.“ Der Grund: Wenn die Kinder ihre negativen Gefühle wie Wut, Angst oder Enttäuschung ausleben dürfen, können Eltern ihnen beibringen, damit umzugehen. Wenn diese Gefühle aber unterdrückt werden, hat das Kind keine Chance zu lernen, wie man sie besiegt. Es wird später – oft auch erst als Erwachsener – darunter leiden und es dann sehr viel schwerer haben, seine Probleme loszuwerden. Deshalb ist es ganz normal, wenn Eltern ihre Sensibelchen als „schwierig“ bezeichnen.
Hochsensible sind keine Heiligen – das sollten Eltern nicht verklären, rät Elaine N. Aron. Sie können durch schlechte Erfahrungen oder Überforderung jedoch leichter als andere schüchtern, ängstlich oder depressiv werden. Das haben Erwachsene in der Hand. Die Professorin ermutigt zu sanfter Hilfe: „Damit werden diese Kinder außergewöhnlich kreativ, kooperativ und freundlich.“
Ist Ihr Kind hochsensibel?
Hinweise auf außergewöhnliche Empfindsamkeit können sein, wenn ein Kind …
- leicht erschrickt
- keine großen Überraschungen oder Veränderungen (zum Beispiel in der Wohnung) mag
- Einschlafprobleme nach einem aufregenden Tag hat
- schmutzige und nasse Kleidung oder Etiketten auf der Wäsche nicht tragen will
- ein intensives Gefühlsleben mit viel Auf und Ab hat
- es vor allem aufgeschlossen und leistungsstark ist, wenn keine Fremden dabei sind
- die Stimmungen anderer erkennt – vor allem, wenn die unglücklich sind
- lärm-, geruchs- und schmerzempfindlich ist
- leise Spiele bevorzugt
- hintergründige, tiefsinnige Fragen stellt und einen klugen Sinn für Humor zeigt
- häufig Mitleid mit anderen empfindet
BUCH-TIPP
Wie erkennen wir, ob unser Kind hochsensibel ist? Was müssen wir bei der Erziehung beachten? Was sollte man fördern? Was erzwingen, um das Kind weiter zu bringen? Worauf sollten Lehrer achten? Auf fast 500 Seiten gibt die Psychologin Elaine N. Aron Tipps für Eltern und Pädagogen, die mit hochsensiblen Kindern zu tun haben (Elaine N. Aron: Das hochsensible Kind – wie Sie auf die besonderen Schwächen und Bedürfnisse Ihres Kindes eingehen, 19,90 Euro, mvg Verlag).
Test-Tipp
Sie wollen mit Hilfe eines Online-Tests herausfinden, ob Ihr Kind besonders sensibel ist? Auf der Webseite starkekids.com finden Sie den Selbsttest Ist mein Kind hochsensibel?
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