„Früh erkannt, lässt Rheuma sich heute gut behandeln“

Experten über moderne Schulmedizin und alte Naturheilverfahren im Kampf gegen Rheuma

Viele Menschen leiden unter der Volkskrankheit Rheuma. Nach Angaben der Deutschen Rheuma-Liga haben bis zu 20 Millionen Deutsche eine rheumatische Erkrankung. Viele wissen allerdings nichts davon. Sie leiden unter starken Beschwerden, haben aber keine Diagnose. Obwohl die Möglichkeiten zur Rheuma-Behandlung heute besser sind denn je, erträgt ein großer Teil der Betroffenen noch immer viel zu lange unnötige Schmerzen. Was läuft falsch? Ein Gespräch mit dem Rheumatologen Dr. Keihan Ahmadi (auf dem Bild rechts) und dem Ernährungsmediziner und Arzt für anthroposophische Medizin Dr. Jörn Klasen vom Medizinicum Stephansplatz in Hamburg über einen gemeinsamen Ansatz mit zwei Schwerpunkten, Ärztemangel, Patientenängste und Türsteher vor entzündeten Zellen.

Sie sind Rheumaspezialisten. Macht der Beruf Spaß?

Dr. Ahmadi: Ja! Auch wenn es nach außen vielleicht nicht immer so aussieht, ist das ein unheimlich spannender Beruf. Bei etwa der Hälfte aller Fälle muss ich regelrechte Detektivarbeit leisten. Rheuma erfolgreich zu behandeln, ist eine sehr komplexe Tätigkeit. Es gibt keine festen Regeln und keinen Moment, in dem ich – auch nach 20 Jahren Berufserfahrung – einfach auf Autopilot stellen kann. Rheuma kann die Gelenke, die Organe, die Haut oder das Immunsystem treffen. Alles ist fließend, wie der Name Rheuma für „fließender Schmerz“ schon sagt. Trotzdem – oder gerade deshalb – ist es eine sehr dankbare Tätigkeit. Ich habe Patienten, die im Rollstuhl kommen und ein paar Monate später wieder tanzen können. Als Rheumatologe erlebe ich manchmal echte Wunder.

Dr. Klasen: Das kann ich bestätigen. Es ist ein toller Job – und das sogar noch nach mehr als 35 Jahren. Wir müssen kreativ sein, manchmal phantasievoll vorgehen, aber wir können viel erreichen. Und das nicht nur mit den Mitteln der Schulmedizin. Auch bei Rheuma betrachten wir den ganzen Menschen. Die Krankheit hängt mit sehr vielen anderen Dingen zusammen. Ob jemand Raucher ist, Übergewicht hat, sich schlecht ernährt oder unter seelischen Problemen leidet – all das spielt bei der Behandlung eine Rolle. Nichts verläuft nach dem gleichen Muster. Der Arzt muss sehr genau auf den Patienten eingehen, um ihn gut behandeln zu können.

Wo ergänzen Sie sich?

Dr. Klasen: Eine Patientin, Anfang 40, kommt mit Haarausfall zu mir. Die Blutuntersuchung ergibt einen Verdacht. Herr Ahmadi bestätigt das. Es handelt sich um einen kutanen Lupus erythematodes. Dr. Ahmadi empfiehlt eine Basistherapie, die ich durch anthroposophische Medikamente und komplementärmedizinische Maßnahmen ergänze. Eineinhalb Jahre später hat die Patientin wieder einen vollen, lockigen Haarschopf. Oder Herr Ahmadi hat einen Patienten, der unbedingt seine Ernährung umstellen muss, um sein Übergewicht loszuwerden. Nach einem Jahr hat er 17 Kilo abgenommen und seine Beschwerden sind deutlich gelindert. Noch ein Beispiel: Eine unserer Rheumatologinnen kommt vorbei und zeigt mir das Laborblatt eines Patienten, dessen Leberwerte unter Methotrexat deutlich angestiegen sind. Mit homöopathischen Mitteln haben wir das in den Griff bekommen.

Warum wissen viele Betroffenen nicht, was heute möglich ist?

Dr. Ahmadi: Weil die nötigen Informationen sie nicht erreichen. Das hat dramatische Folgen. Ein typisches Beispiel: Eine Frau wohnt in einer ländlichen Region. In ihrer Nähe gibt es keine rheumatologische Praxis. Da sie selbst nicht weiß, woran sie leidet, macht sie sich auch nicht auf die Suche im weiteren Umfeld. Seit acht Jahren hat sie unerklärliche Schmerzen, geht von einem Arzt zum nächsten, bekommt Medikamente auf Verdacht, wird mal auf dies mal auf das behandelt, aber nichts hilft ihr. Man kommt nicht auf die Idee, dass es Rheuma sein könnte. Das Leiden geht weiter, obwohl es völlig unnötig ist. Ein Spezialist hätte ihr sofort helfen können.

Müsste der Hausarzt sie nicht zum Spezialisten schicken?

Dr. Klasen: Theoretisch schon, aber die Hausärzte sind teilweise auch wegen großem Andrang der Schmerzpatienten oft hilflos. Ein Hausarzt kann auf diesem Gebiet kaum Erfahrung sammeln. Er sieht vielleicht einmal in der Woche oder im Monat einen Rheumafall. Trotz der hohen Anzahl der Betroffenen gehört Rheuma mit seinen vielfältigen Formen im Vergleich zu anderen weitverbreiteten Zivilisationskrankheiten wie Diabetes oder Bluthochdruck zu den seltenen Erkrankungen.

Gibt es zu wenig Rheumatologen in Deutschland?

Dr. Ahmadi: Ja, es gibt bundesweit nur 600 bis 800 internistische Rheumatologen. Wer das Pech hat, so zu wohnen, dass er durch das weitmaschige Netz hindurch fällt, muss nicht nur viel zu lange Schmerzen ertragen. Es entstehen in dieser Zeit auch irreversible Schäden an den Gelenken und Organen, die man bei einer rechtzeitigen Behandlung leicht hätte vermeiden können. Um eine einigermaßen flächendeckende Grundversorgung zu gewährleisten, müsste es in Deutschland 1800 bis 2000 Rheumatologen geben.

Was sind die Gründe für diesen Mangel?

Dr. Ahmadi: Das beginnt schon bei der Ausbildung. Nur sechs Unikliniken haben in Deutschland Lehrstühle für Rheumatologie; dabei müsste eigentlich jede medizinische Fakultät einen haben. Außerdem wollen nicht viele junge Ärzte Rheumatologen werden. Es ist schwer, einen Weiterbildungsplatz zu bekommen. Die Ausbildung ist – wie bei allen Ärzten – lang und teuer. Danach weiß der junge Kollege auch nicht, ob er davon einigermaßen leben kann. Es handelt sich bei der Rheumatologie um die sogenannte sprechende Medizin, die in unserem System schlecht bezahlt ist.

Dr. Klasen: Leider wird heute in vielen Krankenhäusern nur noch darauf geguckt, wie viel Gewinn eine Abteilung macht. Privatwirtschaftlich organisierte Krankenhäuser sind auf hohe Umsätze angewiesen. Dabei gilt: Je mehr technische Geräte zum Einsatz kommen, desto besser ist die Vergütung. Rheumabehandlung ist ärztliche Kunst, die für junge Ärzte nicht attraktiv honoriert wird.

Wann sollte eine Behandlung beginnen?

Dr. Ahmadi: In der Regel sind die ersten Monaten sehr entscheidend. In dieser Manifestationsphase sind viele Fenster offen. Wir müssen früh an die Krankheit ran und sie sofort hart bekämpfen. Es ist die Zeit, in der die größten Schäden entstehen. Gelenke werden zerstört. Organe verlieren ihre Funktionen. Für den Behandler ist das die entscheidende Zeit. Hier kann ein Rheumatologe noch sehr viel bewirken. Die zweite Phase verläuft weniger problematisch. Ist der Patient gut eingestellt und sehr eng an die Arztpraxis gebunden, geht es ihm relativ gut. Manchmal sogar so gut, dass er seine Medikamente vergisst oder meint, sie nicht mehr zu brauchen („ich kann das jetzt alleine“). In dieser dritten Phase kann dann wieder viel schiefgehen. Nur durch engmaschige Kontrollen durch den Rheumatologen lässt sich feststellen, ob die Krankheit noch eine medikamentöse Therapie braucht oder nicht. Deshalb sollten Patienten unbedingt ihre Kontrolltermine einhalten und therapietreu bleiben.

Ist der Ablauf bei allen Patienten gleich?

Dr. Ahmadi: Wir sehen heute viele Patienten, die früher Invaliden geworden wären. Da geht es nicht immer nach dem gleichen Schema. Die ärztlichen Leitlinien geben zwar vor, was wann zu tun ist, lassen aber auch Ausnahmen zu, wenn die Gesundheit eines Menschen akut in Gefahr ist. In zehn bis zwanzig Prozent aller Fälle können wir nicht so vorgehen wie vorgesehen. Es gibt zum Beispiel einige Fälle mit der Rheumatoiden Arthritis bei jungen Frauen, in denen wir eine modifizierte Vorgehensweise auswählen müssen, damit die Patientinnen keine bleibenden Schäden an den Gelenken bekommen.

Können die Patienten selbst etwas tun?

Dr. Klasen: Auf jeden Fall. Es ist bekannt, dass Patienten, die gute Kenntnisse über ihre Erkrankungen haben, viel besser mit den Symptomen umgehen. Wer umfassend betreut wird und zusätzlich selbst etwas macht, ist gelassener und hat längere beschwerdefreie Intervalle. Ernährung, Bewegung, ein gesunder Umgang mit Stress und ein guter Lebensstil können viel zur Verbesserung beitragen. Methoden aus der Naturheilkunde wirken unterstützend und schmerzlindernd. Das sind relativ einfache Maßnahmen ohne Nebenwirkungen. Zum Beispiel ist die Ernährung gar nicht so extrem eingeschränkt, wie es oft befürchtet wird. Was hilft und was schadet, ist gut benennbar. Ein Ernährungs-Mediziner ist bei der Rheumaschulung ein guter Berater.

Nehmen die Patienten psychologische Hilfe an?

Dr. Ahmadi: Die Erkrankung wirkt sich aufs ganze Leben aus. In der Krebsbehandlung gibt es die Psychoonkologen. Auch für Rheuma wäre das in Deutschland hilfreich. Dafür brauchen wir aber auch mehr Psychologen und Psychiater, und die Patienten müssten es wollen. Erst wenn sie erkennen, dass ihnen Hilfe gut tut und dass es nicht darum geht, jemanden zu stigmatisieren, klappt das in der Regel. Ob jemand diese Hilfe annimmt, ist oft eine Frage der Formulierung. Kaum jemand möchte sagen „Ich gehe zum Psychologen“, aber mit dem Satz „Ich habe einen Lifestyle-Coach“ kommen die meisten prima klar.

Was machen Sie mit Patienten, die keine klassische Medizin wollen?

Dr. Klasen: Die kommen natürlich erst einmal zu mir. Da sind zunächst die Patienten, die genau wissen, dass sie nur mit Natursubstanzen behandelt werden wollen und auch keine Kompromisse machen. Dann gibt es eine Gruppe, die gravierende Nebenwirkungen, von denen sie einmal gehört haben, vermeiden möchten. Und dann kommen Menschen, die einfach wissen wollen, was so ein „Naturarzt“ sagt. Bei den meisten Patienten, die zu mir kommen, steht die Diagnose fest. Sie wünschen sich nur eine Auswahl an individuellen Therapiemöglichkeiten.

Gibt es typische Rheumapersönlichkeiten?

Dr. Klasen: Früher wurden Körper und Psyche in der Medizin klar getrennt. Heute sehen wir, wie eins aufs andere wirkt, der Körper auf die Seele und die Seele auf den Körper. Als Ärzte erleben wir das tagtäglich. Viele Rheumapatienten schleppen etwas mit sich herum. Aus Erfahrung weiß ich, dass bei der Entstehung von Autoimmunprozessen fast immer auch seelische Faktoren eine Rolle spielen. Wir haben an einem Krankenhaus, in dem ich früher gearbeitet habe, eine Studie zur chronischen Polyarthritis gemacht und dabei festgestellt, dass viele Frauen mit dieser Krankheit Traumata aus der Kindheit haben.

Zeigt sich ein Unterschied zwischen Männern und Frauen?

Dr. Ahmadi: In der Regel kommen die Autoimmunerkrankungen und entzündlich-rheumatische Systemerkrankungen häufiger bei Frauen vor. Wir wissen aus der täglichen Praxis, dass Frauen sich deutlich mehr um ihre eigene Gesundheit kümmern als Männer. Frauen wollen daher auch mehr wissen. Ich habe männliche Patienten, die es ihren Frauen zu verdanken haben, dass Diagnosen noch rechtzeitig gestellt und die Behandlung eingeleitet wurden. Oft lesen Frauen im Internet, wo ihr Mann Hilfe findet. Frauen kümmern sich auch besser und umfassender um sich selbst. Die Einstellung „Wehwehchen sind etwas für Schwächlinge“ ist bei Männern ausgeprägter – mit der Konsequenz, dass sie die Schmerzen ertragen statt etwas dagegen zu tun.

Was bedeutet die Diagnose für einen Menschen?

Dr. Klasen: Natürlich freut sich niemand darüber. Doch viele Patienten, die jahrelang von einem Arzt zum anderen gelaufen sind und das Gefühl haben, dass niemand sie ernst nimmt, sind geradezu erleichtert, wenn ihre Schmerzen endlich einen Namen haben. Denn einen Namen zu haben, heißt, dass ihnen geholfen werden kann. Ich habe zwanzig Jahre Notfallendoskopie im Krankenhaus gemacht. Der weitaus größte Teil der Patienten kam mit Magenblutung bei unkontrollierter Einnahme von Schmerzmitteln. Auch deshalb ist die frühe Diagnose so wichtig. Denn wir haben bei den rheumatischen Erkrankungen heute so gute medikamentöse Möglichkeiten, dass Schmerzmittel häufig überflüssig werden.

Wovor haben Rheumapatienten Angst?

Dr. Ahmadi: Leider oft ausgerechnet vor den Medikamenten, die ihnen helfen. Wenn sie den Beipackzettel gelesen haben, sagen sie oft: „Das ist ja Teufelszeug!“ Zugegebenermaßen klingen die Nebenwirkungen bedrohlich; die Hersteller müssen sich damit absichern. Das geht nicht anders. Wir haben aber zusätzlich ein Merkblatt entwickelt, mit dem wir gründlich aufklären und die meisten Bedenken aus dem Weg räumen können.

Wie entwickelt sich die Rheumabehandlung?

Dr. Ahmadi: Die Entwicklung geht rasant vorwärts. Verbogene Hände, die früher ein typisches sichtbares Rheumazeichen waren, sieht man heute fast gar nicht mehr. Auch hier geht es – wie in vielen anderen medizinischen Bereichen – immer weiter in Richtung personifizierte Medizin. Die erste große Revolution war Kortison in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrtausends. In den Achtzigern kam Methotrexat dazu. Mit den Biologika, die zur Jahrtausendwende auf den Markt kamen, hat die Rheumatherapie eine echte Revolution erfahren. Wir können die Krankheit nun in der Tat so gut behandelt, dass keine bleibenden Schäden zustandekommen können – vorausgesetzt natürlich, dass rechtzeitig diagnostiziert wird. Aktuell versprechen die neueren Januskinase-Inhibitoren, auch JAK-Hemmer genannt, die im Gegensatz zu den klassischen Biologika als Tabletten verabreicht werden, weitere hervorragenden Möglichkeiten.

Was passiert dabei im Körper?

Dr. Ahmadi: Die modernen Medikamente gehen immer zielgerichteter in die Zellen oder an die Botenstoffe, ohne die Umgebung zu zerstören. Das ist vergleichbar mit einem Zimmerbrand. Stellen Sie sich vor, dass ein Türsteher den Eingang eines Zimmers blockiert. Früher wurde einfach das ganze Haus gelöscht. Dann lag das Zimmer in Schutt und Asche, die Entzündung war weg, der Türsteher tot, das Haus renovierungsbedürftig. Mit besseren Medikamenten konnten Ärzte später nur den Türsteher besiegen, um ins Zimmer zu kommen und dort zu löschen. Das Haus blieb erhalten. Inzwischen schicken wir Wirkstoffe ins Haus, die sich mit dem Türsteher anfreunden, sodass der sie freiwillig ins Zimmer lässt. Dabei handelt es sich um sogenannte Checkpoint-Inhibitoren, wie sie auch aus der Krebsbehandlung bekannt sind. Das ist viel schonender. Wir haben wirklich gute Therapieoptionen, die sich in den nächsten Jahren weiter rasant verbessern werden. Da ist noch einiges in der Pipeline. Die Patienten müssen nur rechtzeitig zu uns kommen.

Fotos: Claudia Timmann

Buchtipp

Dr. med. Jörn Klasen und Dr. med. Keihan Ahmadi-Simab: Gemeinsam gegen Rheuma — das Wissen zweier Top-Mediziner: die besten Strategien aus Naturmedizin und Schulmedizin, ZS-Verlag, 24,99 Euro

DAS KÖNNTE SIE AUCH INTERESSIEREN

Heftige Bauchschmerzen: Ist es der Blinddarm?

Ziehen im Bauch: Wie erkennt man einen Leistenbruch?

Erholsamer Mittagsschlaf – wie viel darf es denn sein?

Gebrochenes Herz nach emotionalen Stress

Keine Angst vorm Hörgerät: Gutes Hören hält geistig fit

Bewegung ab 50 Jahren: Sport senkt das Demenzrisiko