Prof. Burkhard Sievers

Bei vielen Krankheiten werden Frauen falsch behandelt

Buchautor Professor Burkhard Sievers über geschlechtsspezifische Nachteile in der Medizin

Ob Medikamentenforschung, Hormone, Stress oder Volkskrankheiten – in der Medizin gibt es große Unterschiede zwischen den Geschlechtern, die leider noch zu selten berücksichtigt werden. Das hat verhängnisvolle Folgen. In seinem Buch „So heilt man heute“ (ZS Verlag) zeigt Prof. Dr. med. Burkhard Sievers, warum Männer und Frauen unterschiedliche Medizin brauchen, und sagt hier, was jeder dafür tun kann.

Sie sind Experte für Gendermedizin. Wie kam es dazu?

Ich komme aus der Herzkreislauf- und Gefäßmedizin, also aus einem Fachgebiet, in dem die Unterschiede zwischen Mann und Frau besonders deutlich sind. Dort gibt es gleich mehrere Erkrankungen, bei denen Ärztinnen und Ärzte schon in der Notaufnahme und später auch im Verlauf feststellen, dass geschlechtsspezifische Diagnosen und Behandlungen nötig sind. Außerdem habe ich mich schon früh für Frauenheilkunde interessiert. In dieser Kombination kann man die Unterschiede kaum ignorieren. Mit der Gendermedizin können wir Fehldiagnosen, Unverträglichkeiten, Therapieabbrüche und schlechte Verläufe vermeiden. Ich wollte all diese Erkenntnisse nicht einfach hinnehmen, sondern sie für eine bessere Medizin nutzen.

Männer oder Frauen – wer ist in der Medizin benachteiligt?

Das sind nach wie vor in vielen Aspekten die Frauen. Nicht weil sie andere Krankheiten haben, sondern weil sie beispielsweise andere Medikamente beziehungsweise andere Dosierungen brauchen. Auch die Beschwerden können unterschiedlich sein. Nehmen wir zum Beispiel den Herzinfarkt. Da gibt es Männer-Symptome aus dem Lehrbuch wie Druck-Enge-Gefühl auf der linken Seite mit Ausstrahlung in den linken Arm oder in den Kiefer. Bei Frauen treten eher Leistungsschwäche, Müdigkeit und Druckgefühle auf, die in die rechte Körperhälfte und in die Magen-Darm-Region ausstrahlen. In der Notaufnahme wird das dann fehlgedeutet als Rücken- oder Bauchschmerzen. Wird der Infarkt deshalb zu spät erkannt oder gar nicht behandelt, kann das lebensbedrohliche Folgen haben.

Wo haben Männer Nachteile?

Zum Beispiel bei Depressionen. Davon sind Frauen zwar doppelt so oft betroffen, bei Männern wird die Erkrankung aber seltener erkannt, weil die Symptome anders sind. Die üblichen Fragebögen zur Diagnose spiegeln das nicht wider. Depressive Männer werden zum Beispiel eher aggressiv, nehmen Suchtmittel und flüchten in Abhängigkeiten. Das wird aber nicht abgefragt, also auch nicht erkannt und nicht behandelt. Die Dunkelziffer bei depressiven Männern dürfte sehr hoch sein. Die dramatischen Folgen zeigen sich unter anderem beim Thema Suizid. Männer unternehmen drei Viertel aller Selbsttötungen; ein Großteil von ihnen hatte vorher eine Depression.

Was kann man dagegen tun?

Ob Männer oder Frauen – letztendlich läuft jeder Gefahr, falsch behandelt zu werden. Wir alle sollten die Erkenntnisse der Gendermedizin zum Anlass nehmen, genauer hinzuschauen. Mit dem Wissen um die geschlechtsspezifischen Unterschiede müssen nicht nur Ärztinnen und Ärzte achtsamer sein. Auch Patientinnen und Patienten selbst, ihre Familien, Freunde, Kollegen und Kolleginnen oder Angehörige profitieren, wenn sie möglichst viel über das Thema wissen.

Wie lässt sich das im Alltag umsetzen?

Hier geht es vor allem um Aufklärung und Achtsamkeit. Stellen Sie sich vor, Ihr Nachbar klagt jahrelang über Rückenschmerzen, wird immer krummer und hat Knochenbrüche scheinbar ohne Anlass. Niemand denkt an eine Osteoporose, weil das eine typische Frauenkrankheit ist. Schließlich sagt ihm eine Bekannte, dass auch Männer den gefährlichen Knochenschwund haben können. Mit diesem Hinweis diagnostiziert sein Orthopäde eine Osteoporose und kann ihm endlich helfen. Wäre er rechtzeitig in eine Praxis gekommen, in der man sich mit geschlechtsspezifischen Themen auskennt, hätte er sich Schmerzen, Brüche und Krankenhausaufenthalte ersparen können.

Welchen Nutzen hat Ihr Buch für Leserinnen und Leser?

Mir geht um beide Geschlechter und die praktische Anwendung. In meinem Buch stehen die verbreitetsten Volkskrankheiten im Mittelpunkt, die man zum Großteil mit Medikamenten behandelt. Dabei wäre es ein entscheidender Schritt nach vorne, wenn wir Dosierungen geschlechtsspezifisch anpassen. Frauen brauchen meist geringere Mengen, haben dann auch weniger Nebenwirkungen, halten die Therapien besser durch und werden schneller gesund. Für das Buch habe ich zum Beispiel eine Tabelle mit Dosierungsempfehlungen bei gängigen Blutdruckmedikamenten für Männer und Frauen erstellt. Außerdem gibt es einen Selbsttest speziell für Männer zum Thema Depressionen mit Fragen, die bisher nicht berücksichtigt wurden.

Was müsste sich in Zukunft ändern?

Noch immer werden Medikamententests vor allem mit jungen gesunden Männern gemacht und andere wichtige Faktoren außen vorgelassen. Wir brauchen langfristig mehr Studienteilnehmerinnen, sollten hormonelle Schwankungen besser berücksichtigen und weitere Kriterien in die Beurteilung einbeziehen – zum Beispiel Alter, Größe, Gewicht, Lebensstil, Vorerkrankungen und mögliche Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten. Die zunehmende Digitalisierung in der Medizin eröffnet uns neue Möglichkeiten, die wir für eine geschlechtsspezifische, individuellere und damit bessere Medizin nutzen sollten.

BUCHTIPP

So heilt man heuteProf. Dr. med. Burkhard Sievers: So heilt man heute – Maßgeschneiderte Therapien bei den 10 häufigsten Volkskrankheiten, ZS-Verlag, 24,99 Euro.

 

 

Foto: privat

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